Es ist viel geschrieben und noch mehr gesagt worden, über das Treffen zwischen Erdogan und den drei Fußballgrößen. Drei, denn mit Cenk Tosun nahm auch ein weiterer Profi mit deutschen Wurzeln an dem Treffen teil. Tosun ist in Wetzlar geboren und aufgewachsen und hatte seine ersten Profijahre bei Eintracht Frankfurt. Warum ich das erwähne? Nun, weil er im Prinzip nichts anderes ist als eine umgekehrte Blaupause zu Mesut Özil und Ilkay Gündogan. Auf dem berühmt gewordenen Foto fehlt übrigens noch einer, der absolut in diese Schnittmenge gehört. Emre Can war zu diesem Zeitpunkt noch Spieler des FC Liverpool, ebenso wie Özil und Gündogan Kandidat für den deutschen WM-Kader, aber nicht bereit „sich instrumentalisieren zu lassen“.

Alle vier Spieler sind in Deutschland geboren, sogar deren Eltern haben bereits den überwiegenden Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht oder kamen bereits hier zur Welt.

Aber wie sagte einst Cus d’Amato, der Trainer von Boxlegende Mike Tyson, über seinen Zögling: „Du bekommst den Boxer zwar aus dem Ghetto, aber das Ghetto nie aus dem Boxer“.

Ebenso verhält es sich im Fall der türkischstämmigen Spieler. Die Community, in der diese Jungs aufgewachsen und sozialisiert worden sind, ist zu umfangreich, um sie nicht zu berücksichtigen. Während beispielsweise ein Jerome Boateng sich schon früh bewusst wurde, dass er ein Berliner mit dunklem Teint ist, weil eigentlich nie jemand diese Denkweise in Frage stellte, waren die Jungs aus Gelsenkirchen, Frankfurt und Wetzlar von Anfang an in einer Doppelhelix gefangen, deren Schlingen kontinuierlich auf deren Entwicklung einwirkten. Sonntags trafen sich die Eltern zum Derby zwischen Besiktas und Fenerbace, montags Treffen zum deutschen U14 Lehrgang in der Sportschule. Abends beim Kicken gegen das Garagentor mault der deutsche Hausmeister und beim Ball jonglieren an der Bushaltestelle quatscht dich ein wildfremder Mann auf türkisch an, um dir lobend eine große Zukunft bei Trabzonspor oder Galatasaray zu prognostizieren. In der Schule in Gelsenkirchen bist du der Türke, beim Urlaub im Dorf der Verwandten an der Schwarzmeerküste fällt dir dann auf, wie wenig du noch Türke bist. Später geben sich abwechselnd deutsche und türkische Verbandsvertreter die Türklinke deines Elternhauses in die Hand, umschmeicheln deine Eltern und versuchen dich für ihre Jugendteams zu gewinnen. Diese und tausendfach ähnliche Ereignisse von der Wiege bis zum ersten Profivertrag hinterlassen natürlich Spuren im Gemüt dieser Jungen. Irgendwann ist die Entscheidung für eine Nationalmannschaft dann eher eine persönliche Entscheidung auf dem Weg zur Karriere, als eine Herzensentscheidung. Mesut Özil sagte einmal zum Ende seiner Zeit bei Real Madrid in einem Interview: „Ich habe jetzt mehr Lebenszeit in Spanien verbracht, als ich je in der Türkei war. Bin ich deshalb jetzt ein spanischer Deutsch-Türke oder ein türkischer Deutsch-Spanier?“

Als Ilkay Gündogan seinerzeit beim FC Nürnberg seine ersten Gehversuche als Profi unternahm, war dort zeitgleich mit Mehmet Ekici ein weiterer junger Deutsch-Türke auf dem Weg nach oben. Nicht wenige trauten Ekici damals die größere Karriere zu und es spricht für das Scouting beim DFB, dass man eigentlich immer den richtigen Riecher hatte, wenn es um die spätere Verwendbarkeit dieser Jungs ging. Ekicis Laufbahn jedenfalls ist gezeichnet von Aufs und Abs, die ihn bis heute zum Profi bei Fenerbace und zu einem Dutzend Länderspiele für die Türkei gebracht haben. Aber Verwendbarkeit ist nicht gleichzusetzen mit Attributen wie Loyalität oder Identität, ohne speziell den Vieren das ein oder andere absprechen zu wollen. Auch bei Emre Can weiß man zunächst nur, dass er den Stil Erdogans missbilligt, nicht mehr und nicht weniger.

Im Fall der Familie Boateng ging der Cut sogar quer durch die Familie. Während Jerome fast ohne Unterbrechung seinen Weg von den Jugendmannschaften des DFB bis zum WM-Titel im Seniorenbereich machte, verlief die Karriere von Bruder Kevin etwas stockender und wurde erst durch die Teilnahme bei der WM in Südafrika für Ghana, die Heimat seines Vaters, wieder in Schwung gebracht. Besondere Brisanz hatte dieser Umstand dadurch, dass Kevin Prince Boateng in einem Ligaspiel im Vorfeld den deutschen Capitano Michael Ballack so schwer verletzte, dass dieser für die WM ausfiel. Bruder Jerome versuchte gar nicht erst, seinen Bruder in einer Art familiären Schulterschluss zu verteidigen, sondern distanzierte sich gegenüber der Boulevardpresse. Ob Absprache oder Gefühlssache – am Ende des Tages war die Geschichte keine Munition und das Fehlen Ballacks war der Startschuss für eine Dekade nie dagewesener Erfolge der deutschen Nationalmannschaft. Nicht zuletzt ging dadurch auch der Stern eines Mesut Özil auf, während ein anderer Teilnehmer, Dennis Aogo, zu keinem Einsatz kam. So waren dann alle 6 Einsätze Aogos in der deutschen Nationalmannschaft reine Freundschaftsspiele, was dazu führte, dass sich später, gerade zu einer Zeit als dessen Karriere ein Tief erfuhr, der nigerianische Verband meldete, um ihn zu einer Teilnahme am Africa-Cup zu überreden. Aogo lehnte dies trotzdem ab, weil er sich nach eigener Aussage nicht im Mindesten mit dieser Nation identifizieren konnte.

Aber zurück zu unseren Protagonisten und dem aulösenden Moment, der Anlass zu dieser Kolumne wurde. Migranten und deren Nachfahren sollten generell nicht beurteilt werden, wie Menschen die sich nie Gedanken um ihre Herkunft machen mussten und diesen steht es nicht im Geringsten zu, darüber zu urteilen. Als Kuzorra, Szepan, Burdenski und Kosslowski in den 1930er Jahren die Verteidigerreihen in Deutschland als Initiatoren des legendären Schalker Kreisels schwindelig spielten, waren deren Vorfahren bereits fast hundert Jahre im Ruhrgebiet ansässig und niemand, nicht einmal die verbohrten Nazis mit ihren kruden Ideologien, verschwendete einen Gedanken daran, dass diese Sportler die Nachfahren der ersten Gastarbeiter in Deutschland waren, denn was heute geradezu typische Namen aus dem Pott sind, waren einst Polen aus den schlesischen Bergbaugebieten, deren Arbeitskraft den Weg Deutschlands zur Industrienation ebnete.

Bleibt mir zum Schluss nur noch ein Verweis und last but not least, ist es vielleicht der wichtigste, mit Sicherheit aber zielführenste Aspekt der Vorkommnisse rund um dieses Erdo-Gate und so wäre es dann auch die einzige Frage, die ich Özil, Gündogan und Tosun zu diesem Thema stellen würde.

Wenn Fußballer wie Tosun, Özil und Gündogan sich mit Leuten wie Erdogan treffen und diesem Wahlkampfhilfe geben und dann auch noch Widmungen wie „Mein Präsident“ medial in die Kamera halten, verschwenden sie dann nicht einen einzigen Gedanken an das, was auch ihnen dereinst blühen könnte? Hakan Sükür war zu einer Zeit, als diese Jungs noch Idole suchten, um diesen nachzueifern und Poster und Wimpel noch deren Kinderzimmer füllten, ein Idol der allermeisten Kids türkischer Eltern und Großeltern. Mit seinem Namen sind die größten Erfolge des türkischen Fußballs eng verknüpft. Dieser Hakan Sükür, der nach seiner glanzvollen Karriere für die AKP ins nationale Parlament gewählt wurde, wird nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur in seinem Heimatland von der Staatsanwaltschaft per Haftbefehl gesucht. Şükür wurde 2015 zunächst vorgeworfen, Erdogan und dessen Sohn Bilal beleidigt zu haben, nach dem Putschversuch 2017 beschuldigte man ihn zudem, Gülen-Anhänger und damit „Mitglied einer bewaffneten Terrororganisation“ zu sein. Auch sein Vater Selmet Şükür sei zur Fahndung ausgeschrieben worden. Aus diesen Gründen ist Hakan Şükür bereits seit 2015 auf der Flucht.

Auf Druck des Sportministers wurde Şükür 2017 seine Vereinsmitgliedschaft bei Galatasaray Istanbul entzogen, obwohl die Vereinsmitglieder einen Tag zuvor mit Mehrheit dagegen gestimmt hatten.

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